Dipl.-Ingin Drin techn. Anna-Vera Deinhammer

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„Paradoxon auflösen: Für die Ewigkeit bauen, trotzdem mit Rückbaukonzept“

Interview mit Dipl.-Ing.in Dr.in techn. Anna-Vera Deinhammer vom Kompetenzzentrum Bauforschung, Regulative Bau, Ingenieurservices, Normen der Magistratsdirektion Bauten und Technik der Stadt Wien.

Das Interview führt Dr. Thomas Belazzi, Geschäftsführer der bauXund gmbh

Belazzi: Die Stadt Wien hat die Rahmenbedingungen für nachhaltiges Bauen neu geordnet. Wie?

Deinhammer: Die Smart City Wien Rahmenstrategie wurde 2019 aktualisiert. Aufgrund des Paris Agreements wurde diese überarbeitet. Die Ziele sind nun in einigen Bereichen höher, wir mussten nachziehen. Das Thema Ressourcenschonung ist ganz neu dazugekommen.

Belazzi: Wie erfolgt die Umsetzung?

Deinhammer: Wir haben 2019 einen transdisziplinären Diskussionsprozess mit allen Magistratsabteilungen, mit den Unternehmen der Stadt Wien, aber auch mit der Wirtschaft begonnen, ein sehr breiter, sehr gelungener Prozess.

Belazzi: Ein Ziel ist es unter anderem, bis 2050 80 % der Materialien und Bauelemente wieder zu verwenden oder wieder zu verwerten. Wie soll dies erfolgen?

Deinhammer: Als Ingenieurin weiß ich, 80 % ist schon sehr viel, fast alles. Mein Lieblingsbeispiel ist, dass in den letzten 30 Zentimeter der Hülle im Schnitt 24 Materialien untrennbar miteinander verbunden sind und diese daher nicht wiederverwertbar sind. Damit sind die vorher angesprochenen 80 % noch schwerer erreichbar.

Belazzi: Gibt’s von der Stadt Wien als großer Beschaffer eine Strategie zum Umgang mit heute nicht oder kaum recyclierten Baumaterialien? Ich denke da an diverse Verbundbaustoffe, Gipskartonplatten, Dämmstoffe etc.

Deinhammer: Das wird jetzt ausgebaut. Mit dem ÖkoKauf Wien Programm haben wir bereits langjährige Erfahrungen, etwa bei Schadstoffvermeidung in Baustoffen. Die öffentliche Beschaffung ist ein großer Hebel. Die Stadt Wien hat nicht nur öffentliche Gebäude wie Schulen, Kindergärten, Amtsgebäude. Wien ist auch sehr eng mit den Betrieben der Wien Holding, dem wohnfonds_wien und Wiener Wohnen, die größte Hausverwaltung der Welt, verbunden. Gleichzeitig hat in Wien das Thema leistbares Wohnen einen sehr hohen Stellenwert. Daher denken wir über die finanziellen Auswirkungen jeder Veränderung genau nach.

Belazzi: Wie sieht die Umsetzungsstrategie für Wien aus?

Deinhammer: Sie erfolgt auf drei Ebenen. Ebene 1 ist die Stadtplanung mit der Frage „Wo muss man ansetzen, um kreislauffähige gebaute Umwelt zu bekommen?“. Ebene 2 ist das Quartier oder Grätzel, wo die Agenda der übergeordneten Stadtplanung eingebracht und lokal umgesetzt wird. Ebene 3 ist das individuelle Hochbauprojekt. Die holländische Stadt Venlo hat auf dieser Ebene etwa ihr neues Rathaus als kreislauffähiges Gebäude geplant und errichtet - sie nennen es „material bank“ -, wo die Materialien aus Rezyklaten bestehen, trennbar und rückbaubar sind.

Belazzi: Der Großteil der Stadt ist bereits gebaut, wie geht Stadt Wien mit Bestandsgebäuden um, mit Thema Sanierung?

Deinhammer: Der „DoTank Circular City“, ein Leitprojekt der Wirtschaftsstrategie der Stadt Wien, ist im ersten Jahr. Daher laufen derzeit die Vorbereitungen für die ersten Projekte auf Hochtouren. Es ist jedoch eine Operation am offenen Herzen. Wir müssen Dinge erproben, ohne das Funktionieren des Gesamtsystems Stadt zu beeinträchtigen.

Wir werden klein anfangen, etwa Blocksanierungen begleiten, Anpassung von Ausschreibungen vornehmen, die Lebenszykluskosten berücksichtigen. Um zu klären, was dies für Baukosten bedeutet. Um dann von Projekt zu Projekt zu lernen und darauf aufbauend schrittweise besser und größer zu werden. Das ist ein multidisziplinärer Transformationsprozess, in den auch die Bauproduktehersteller involviert werden sollen. Die EPDs sollen in den materiellen Gebäudepass eingebracht werden, der von Beginn an listet, was seit der Errichtung verbaut wurde. Dieses Vorgehen wird aktuell intensiv auf europäischer Ebene diskutiert.

Belazzi: Was ist die zeitliche Perspektive?

Deinhammer: Die Umstellung muss im Dialog mit dem Markt passieren. Wir wollen Anreize schaffen, einerseits durch unsere Nachfrage, andererseits durch Rahmenbedingungen, etwa Mindeststandards. Es ist das Henne-Ei Problem zu lösen. Ohne Nachfrage kein Anbot, keine Nachfrage, weil kein Anbot.

Wir wollen auch Demoprojekte machen. Pilotprojekte dazu sind in Vorbereitung, sie werden derzeit identifiziert. Wir haben dazu Vorbilder. 2017 wurde etwa in der Schweiz, in Dübendorf, ein spannendes Demogebäude aus 100% Rezyclaten- oder wiederverwendeten Baustoffen fertiggestellt. Es zeigt innovative Lösungen in vielen Produktanwendungen.

Belazzi: Was gibt es für internationale Aktivitäten? Wien ist zwar für Österreich groß, aber europaweit für multinationale Baustoffkonzerne nur ein kleiner Markt.

Deinhammer: Richtig. Deshalb hat die Stadt Wien seit Oktober 2019 den Vorsitz der Arbeitsgruppe "Circular Construction Materials" der Big Buyers Initiative mit mir als Sprecherin inne. Diese wird gemeinsam von fünfzehn europäischen Städten - darunter zum Beispiel Rotterdam, Paris, Lissabon oder Helsinki auf europäischer Ebene getragen. Wir arbeiten gemeinsam an verschiedenen Bereichen für ein innovatives, öffentliches Beschaffungswesen unter anderem bezüglich Kriterien für zirkuläre Baumaterialien, sowie Methoden und Erfahrungen bei der Berechnung von Kosteneinsparungen durch deren Verwendung. Das öffentliche Beschaffungswesen muss international seinen Markteinfluss bündeln, um möglichst rasch von den Herstellern wahrgenommen zu werden.

Belazzi: Der Fokus liegt heute stark auf den Herstellungsenergien der Baustoffe. Warum?

Deinhammer: Wir haben in den vergangenen Jahren große Fortschritte bei Energieeffizienz von neuen Gebäuden gemacht, das sind wir schon sehr weit. Die Reduktion von sogenannten „Grauen Energie“ in Baustoffen haben wir nicht mit gleicher Aufmerksamkeit verfolgt. Wichtig ist uns, dass keine Bauweise bevorzugt wird. Daher ist es wichtig die Ausschreibung für alle offen zu formulieren, um maximale Innovation zu ermöglichen.

Belazzi: Wie soll dies gelingen?

Deinhammer: Ein Rückbaukonzept könnte Pflicht sein. Die Planung und Architektur müssen mehr Materialien ab der ersten Entwurfsphase berücksichtigen. Der integrale Planungsprozess ist essentiell und muss durchgängig von der Planung zur baulichen Umsetzung weitergezogen werden. Es müssen die Lebenszykluskosten betrachtet werden, gleichzeitig dürfen die Baukosten nicht davonlaufen.

Belazzi: Was muss sich im Planungsprozess ändern?

Deinhammer: Derzeit ist die Planungsphase oft zu kurz. Diese Zeit kostet nur 2-5% der Lebenszykluskosten. Viele Folgekosten könnten so eingespart werden. Planungsvarianten müssen verpflichtend erstellt werden. Dann kann die Bauherrenschaft eine qualifizierte Entscheidung treffen. Gleichzeitig muss das sogenannte „Investor-Nutzer Dilemma“ bedacht werden

Belazzi: Manche lehnen modulares Bauen ab. Warum?

Deinhammer: Modulares Bauen ist wichtig, damit sich das Gebäude über seinen Lebenszyklus an unterschiedliche Nutzung anpassen kann. Modular bedeutet auch, dass Bauteilverbindungen lösbar sind. Modulares Bauen bedeutet nicht, dass alles gleich aussieht wie bei Lego.

Ziel ist Individualität mit serieller Fertigung und Technik zu verbinden. Das bedeutet Kreislauffähigkeit mit langer Lebensdauer. Das ist für viele neu, daher ist es wichtig in die Ausbildung zu gehen. Im Architekturstudium ist das Arbeiten mit Sekundärbaustoffen nicht Teil der Ausbildung. Diese müssen im Entwurf vertieft werden. Ich weiß es aus meiner eigenen Erfahrung, ArchitektInnen und Architekten denken zumeist in Primärbaustoffen. Sekundärrohstoffe müssen zum Standard werden. In Normen ist alles vorhanden, wir wollen es nun umsetzen, wir sind nun erst am Anfang. Dieser Gordische Knoten soll nun zerschlagen werden.

Belazzi: Wenn Sie einen Wunsch an die gute Fee haben, der rasch in Erfüllung geht, was wäre dieser?

Deinhammer: Der integrale Planungsprozess mit standortgerechtem Bauen, der den Einsatz von Sekundärrohstoffen und -bauelemente beinhaltet, wird rasch zum Standard. Dann wäre ich glücklich.

 

Wien, März 2020