Dipl.-Ing.in Carlo Lo

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„Es braucht einen großen Wandel ohne Verzichtsdiskussion!“

Interview mit Arch. Dipl.-Ing. Dr. Renate Hammer MAS, Senior Researcher und geschäftsführende Gesellschafterin des Institute of Building Research & Innovation ZT Gmbh in Wien.

Das Interview führt Dr. Thomas Belazzi, Geschäftsführer der bauXund gmbh

Belazzi: Wie bist du zu deinem heutigen Arbeitsgebiet gekommen?

Hammer: Ich bin Architektin, und mir war schon während meines Studiums bewusst, dass Bauen enorme Ressourcen, vor allem auch an Grund und Boden beansprucht. Diese Einsicht hat mich in den Jahren klassischer Planungstätigkeit zunehmend befasst und auch verunsichert. Das hat mich zur Forschung gebracht, mit dem Ziel, zu mehr Nachhaltigkeit beim Bauen beizutragen.    

Aus heutiger Sicht ist klar, es braucht einen Systemwandel und damit Innovation auf den unterschiedlichsten Ebenen. Dazu reicht es nicht, dass es ein paar Leuchtturmprojekte gibt.  Der Leuchtturmgedanken schließt mit ein, dass wir Einzelprojekte betrachten, es geht aber zumindest um die Siedlungsdimension, um unsere Lebensräume und deren verträgliche Integration in einen übergeordneten Naturraum. Das perfekte Einzelobjekt kann im System betrachtet völlig verfehlt sein - Stichwort gebäudeinduzierter Verkehr. Im Grunde versteht das jeder, und dennoch bleibt es unheimlich schwierig, das einzelne Objekt als Teil in ein Ganzes einzuordnen.

Belazzi: Umstellung ist oft schwierig….

Hammer: Eines ist mir in diesem Zusammenhang wichtig: „Du musst jetzt verzichten!“ hat kaum etwas mit Systemwandel zu tun. Der Gedanke, vom Gleichen weniger zu haben, hat Entwicklungen in den letzten Jahren massiv gebremst. Es geht aber gar nicht darum, auf das Auto zu verzichten und sich einzuschränken, es geht darum, kein Auto zu brauchen. Die Frage sollte sein, wieso bin ich gezwungen, ein Auto zu brauchen?
Natürlich ist es völlig unzumutbar, einen Familienalltag an der räumlichen Peripherie ohne Auto zu bewältigen; Kinder sind in die Schule zu bringen, dann zum Sport, Alte sind zu betreuen, der Einkauf im Nirgendwo, zur Arbeit pendeln. Jetzt geht es um den Perspektivwechsel: Ich muss nicht auf mein Auto verzichten, wenn neben meinem Wohnhaus gleich der Markt und das Freizeitangebot ist und auch die Schule. Ich muss nur meinen Kindern hinterher winken und einen schönen Schultag wünschen, weil ich weiß, dass sie sicher zu Fuß gehen können. Das ist kein Verzicht, das wäre eine Lebenserleichterung.

Belazzi: Von der Peripherie in den Ballungsraum - die Kühlung unserer Städte wird zunehmend eine Herausforderung.

Hammer: Das Prinzip der konventionellen Gebäudeklimatisierung zeigt ganz gut, womit wir im Grundsatz aufhören sollten: mit fossiler Energie ein Büro zu kühlen und die Abwärme in die Stadt zu entsorgen, heißt, das Gebäudeproblem zu lösen, aber das Stadt- und das globale Problem zu befeuern. Systemwechsel würde hier bedeuten, wir bemühen uns, die Stadt so kühl wie möglich zu gestalten und so die Klimatisierung der Gebäudeinnenräume zu erleichtern. Tatsächlich der diametral andere Ansatz. Dazu beschäftigen wir uns in einem aktuellen Forschungsprojekt mit den Potentialen der Wienerwaldbäche, deren historische Verläufe immer noch die Stadt durchziehen, beispielsweise die urbanen Hitzeinseln im Gebiet Gürtel-West. Wir prüfen, wieviel Bachwasser über den Jahresverlauf verteilt zur Verfügung steht, wo wieviel Regenwasser anfällt, dass für den Bach im Sinn der Schwammstadt rückgehalten werden könnte und wo entlang der ehemaligen Gerinne der größte Kühlungsbedarf besteht. So versuchen wir, prädestinierte Testfließstrecken zu identifizieren und deren Kühleffekte in Kombination mit begleitender grüner Infrastruktur zu bewerten.

Belazzi: Warum wurden die Wienerwaldbäche einst in den Kanal verbannt?

Hammer: Um 1830 wurde Wien von Cholera Epidemien heimgesucht. Damals ist man dem Seuchenproblem sehr entschieden entgegengetreten, indem man Wasserversorgung durch Brunnen und Abwasserentsorgung durch Bäche konsequent entkoppelt hat.  Zunächst wurden die Bäche kanalisiert und so aus dem Grundwasser ausgekoppelt, vierzig Jahre später war die Hochquellwasserleitung gebaut, das heißt, die Wasserversorgung weg von den Brunnen hin zur leitungsgeführten Wasserversorgung umgestellt. Das waren aus damaliger Sicht auch grundlegende Systemwechsel. Das sollte uns für heute den Mut geben, auf geänderte Rahmenbedingungen entsprechend zu reagieren. Klimawandelanpassung in der Stadt braucht grundsätzliche Veränderungen.

Belazzi: Wie soll das funktionieren?

Hammer: Es gibt gute Beispiele in der Schweiz, so wurden etwa in Zürich rund 16 km Stadtbäche wieder an die Oberfläche geholt. In Deutschland arbeitet man etwa in Göppingen oder Freiberg mit Rohr-in-Rohrsystemen. Das heißt, der Bach läuft in einem eigenen Rohr am oberen Scheitelpunkt des Kanalprofils. Das saubere Bachwasser kann dort an die Oberfläche gebracht werden, wo das besonders notwendig ist und sich eine Fließstrecke in einer Straße oder auf einem Platz gut umsetzen lässt. Dort bildet man einen Bachlauf aus, umso länger dieses System oberirdisch führt, umso besser für das Stadtklima. Die Bachteilläufe können dann sehr unterschiedlich gestaltet werden - von städtisch, aber trotzdem grün bis zu naturnah.

Belazzi: Und wie weit ist dazu die Diskussion in Wien?

Hammer: Die wird schon sehr lange mit wechselnder Intensität und Aktivität geführt. Mit der Renaturierung der Liesing oder des äußeren Wienflusses sind Vorzeigeprojekte gelungen. Was die Wienerwaldbäche und deren ehemalige Verläufe in tatsächlich dicht bebauten Stadtbereichen angeht, kann eine sehr spannende, auch dynamische Diskussion nachverfolgt werden, die hoffentlich bald die ersten Entscheidungen für Pilotmaßnahmen hervorbringt, denn die thermische Belastung für die Bevölkerung durch den Klimawandel steigt.

Belazzi: Derzeit ist Außenraum in Städten gleich Autoraum.

Hammer: Ja. Wir sind so sozialisiert, dass wir den Straßenraum unhinterfragt als Raum für Autos betrachten, wir haben alle nichts anderes erlebt. Historisch betrachtet war die Befestigung von Straßen und Plätzen ein Fortschritt, eine Totalversiegelung, wie sie für uns normal ist, wurde aber nicht angestrebt, - selbst in den luxuriösesten Parkanlagen nicht. Was bei uns noch gängig und stadtbildprägend ist, - ausnahmslos versiegelte, vergleichsweise dunkle Flächen, vorgerichtet für den Verbrennungsmotor, führt zu einem Außenraumklima, das den Aufenthalt im Straßenraum im Sommer unzuträglich macht und am Ende in die Innenräume von Büros und Wohnungen durchschlägt. Denn das Klima der Gebäude-Innenräume wird in erster Linie aus dem generiert, was rundherum zur Verfügung steht. Und dort herrscht häufig die Antithese zu dem, was Aufenthaltsqualität bedeutet, nämlich massiv begrünt, durchlüftet, variabel beschattet und auch befeuchtet...

Belazzi: Die Klimawandel-Diskussion ist von Naturwissenschaften und Technik-Themen dominiert. Fehlt da nicht noch was?

Hammer: Klimawandel ist nichts Abstraktes, ein zu monitorender Temperaturanstieg. Die steigenden Temperaturen machen etwas mit uns, und zwar nicht nur physiologisch sondern auch psychologisch.  Hitzestress erhöht das Aggressionspotenzial. Augenscheinlich wird das im Straßenverkehr, wo es zu einer Häufung von Unfällen kommt. Diese sehr wichtige psychologische Komponente wird oft vergessen, ist aber für ein zukünftig friedliches Zusammenleben in Städten von entscheidender Bedeutung. Auch deshalb sollten wir rasch mit der Klimawandelanpassung beginnen und mit dem Klimaschutz - der ja nichts anders ist, als Schutz der eigen Existenz - konsequenter sein.

Belazzi: Wenn du einen Wunsch an die Fee hast, was wäre dieser?

Hammer: Mein Wunsch ist, dass in jedem Menschkopf ein positives Bild eingepflanzt ist, wie es schöner, besser, lebenswerter sein kann und sein wird, wenn wir den Systemwandel hin zu mehr Umweltverträglichkeit und Gemeinsamkeit schaffen. Wieder werden derzeit die Verzichtsängste, Neid und sogar die Steinzeit bemüht, das ist der völlig falsche Weg, der von denen beschritten wird, die um ihre eingesessenen Machtpositionen fürchten. Es geht um die Perspektive, aus der der Mut zur Veränderung entsteht. Wenn wir behaupten, die Generation unserer Kinder ist die erste, der es schlechter gehen wird, dann nur, weil uns die Fantasie zu einem Gegenentwurf auf uns selbst fehlt.

Wien, im September 2021